Europa sieht Deutschland 2018

Gegenstrebige Fügung – Deutschland aus französischer Sicht

Festvortrag zum Tag der Deutschen Einheit mit

Prof. Heinz Wismann

Philologe und Philosoph, Paris

Gesprächsleitung
Prof. Dr. Christoph König, Universität Osnabrück


Unsere Wahrnehmung anderer Menschen ist zu einem guten Teil von Selbstwahrnehmungen geprägt, die ihrerseits den Blick der anderen widerspiegeln, dessen Selbstreflexion symmetrisch der gleichen Fremdbestimmung unterliegt. Um diesen Knäuel der Wechselwirkungen aufzulösen und einem kritischen Urteil zugänglich zu machen, bedarf es der behutsamen Rekonstruktion seiner Entstehung. Das gilt insbesondere für das Wahrnehmungsverhältnis größerer Menschengruppen, in dem die sich überkreuzenden Reaktionen meistens unwillkürlich zu einander schroff ausschließenden Stereotypen gerinnen. Je umfangreicher diese Gruppen sind, desto leichter verhärten sich die gegenseitigen Identitätszuweisungen, wie es im Verhältnis der Geschlechter exemplarisch der Fall ist. Da liegt die Versuchung nahe, den Kontrast als solchen schlicht zu leugnen oder zumindest seine Triftigkeit in Zweifel zu ziehen. Aber der Erkenntnisgewinn ist jeweils gering, denn auch falsche Ideen verdanken ihren nachhaltigen Einfluss nicht selten einem verschütteten Wahrheitsgehalt, dem konkrete Erfahrungen zugrunde liegen. Diesem Umstand sollte hier konsequent Rechnung getragen werden, indem das französische Deutschlandbild mit all seinen treffenden Zügen, Widersprüchlichkeiten und gelegentlichen Verzerrungen als Ergebnis einer Abfolge historischer Wahrnehmungskonstellationen gedeutet und Strich für Strich nachgezeichnet wurde. Dabei ging es vor allem darum, den anachronistischen Wiederholungszwang zu durchbrechen und einen differenzierten Zugang zur erlebten Wirklichkeit zu eröffnen. Nur so trat das subtile Widerspiel der Gegensätze in Erscheinung, das Anziehung und Abstoßung, Anerkennung und Ablehnung, ja Liebe und Hass regelmäßig ineinander umschlagen lässt.

Prof. Heinz Wismann Heinz Wismann, 1935 in Berlin geboren, ist Philosoph und Philologe mit dem Forschungsschwerpunkt Hermeneutik und Wissenschaftsgeschichte. Im Anschluss an seine 1961 begonnene Lehrtätigkeit an der Sorbonne ist er 1978 an die École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris, berufen worden, wo er ein Lehrund Forschungsprogramm zur Theorie der Geisteswissenschaften aufgebaut hat. Von 1991 bis 2000 war er außerdem Leiter des Instituts für Interdisziplinäre Forschung (FEST) in Heidelberg. 1986 hat er bei den Éditions du Cerf die Reihe »Passages« gegründet. Sein jüngstes Buch, Penser entre les langues, ist 2012 im Verlag Albin Michel, Paris, erschienen und mit dem »Prix Européen de l’Essai« der Fondation Charles Veillon sowie dem »Luxemburg Peace Price 2013« ausgezeichnet worden.


3. Oktober 2018, 11 Uhr, Ratssitzungssaal des Rathauses, Markt


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© Osnabrücker Friedensgespräche | Uwe Lewandowski

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